Dieser Blog ist ein Teil meiner Arbeit für IGW, wo ich mein Theologiestudium absolviere.
1.1 Mein Praxiszyklus – wie betreibe ich Theologie?
Ich bin sehr gerne in den Bergen. Zwar wandere ich nicht so oft, aber wenn ich dazu komme, geniesse ich es sehr. Darum habe ich meinen Praxiszyklus im Bild einer Bergwanderung gestaltet.
Eine Bergwanderung ist ein Prozess mit Hochs und Tiefs. Zum einen, weil der Weg hoch- und runterführt, zum anderen, weil man Glücksgefühle und Enttäuschungen oder Müdigkeit erlebt: Das kann ich sehr gut auf mein Leben übertragen. Zudem fordert eine Bergwanderung manchmal alles von einem ab. Wenn man aber das Ziel vor Augen nicht verliert und Schritt für Schritt weiter geht, wird man auf dem Gipfel ankommen. Ich denke, die Prozesse des Lebens oder die Prozesse der Theologie sind da nicht anders.
Ich habe daher meinen Zyklus wie oben abgebildet in 5 Schritten oder Phasen aufgebaut:
- Irritation, Frage, Betroffenheit
- Das Tief
- Prüf-Phase
- Überzeugung
- Umsetzung
Diese 5 Schritte können beliebig oft wiederholt werden. Dies vor allem dann, wenn die Umsetzung zu einer neuen Frage oder Irritation führt.
1.1.1 Irritation, Frage, Betroffenheit
Mein Prozess startet immer mit einer Frage, einer Irritation oder mit Betroffenheit: Etwas verwirrt, muss geklärt werden oder ist unangenehm und will daher verändert werden. Das kann auch in Form eines Schicksalsschlages sein oder in dem mein Weltbild erschüttert wird. Es kann sein, dass ich mit einer theologischen Meinung konfrontiert bin, die ich nicht einordnen kann. Dies stösst einen Prozess an. Es wirft Fragen auf. Oft ist es verbunden mit Schmerz, Verwirrung und Unbehagen. Das will geklärt sein. Also mache ich mich auf und stelle mich der Frage oder der Irritation.
1.1.2 Das Tief
Zuerst durchlebe ich in solchen Situationen ein Tief. Was mein Weltbild hinterfragt oder mich irritiert oder mich betroffen macht, ist erst mal unangenehm. Dies äussert sich in Form von Verärgerung, Enttäuschung, Verwirrung, Hoffnungslosigkeit, Schmerz. Natürlich ist diese Liste nicht abgeschlossen. Dies muss zuerst verarbeitet werden. Das braucht Zeit. Wenn ein Sturm über das Meer gefegt ist, braucht der aufgewirbelte Sand eine Zeit der Ruhe, um sich legen zu können. So geht es auch mir, nachdem mich eine Frage oder Irritation aufgewühlt hat. Dabei helfen mir Zeit in der Stille, in der ich meine Gefühle wahrnehmen kann und erlebe, wie Gott mir darin präsent ist. Zudem dient es mir, wenn ich meine Gefühle auf Papier bringen kann oder sie mit meiner Frau oder engen Freuden teilen kann. Wenn ich merke, dass «mein Wasser wieder klarer ist» und ich mich objektiv mit einer Frage beschäftigen kann, beginnt ein konstruktiver Prozess.
1.1.3 Prüf-Phase
Nun beginnt die Phase, in der ich mögliche Argumente und Lösungen prüfe und mir überlege, wie ich mit der Irritation umgehen kann. Jetzt gehe ich auf die Irritation, Frage oder Betroffenheit ein und versuche besser zu verstehen und Erkenntnis zu gewinnen.
In den verschiedenen Schritten der Prüf-Phase gehe ich immer induktiv, deduktiv oder abduktiv vor. Zudem ziehe ich am Ende der Prüf-Phase ein Fazit, das wiederum auf Induktion, Deduktion oder Abduktion beruht. Das bedeutet, ich schliesse vom Besonderen auf das Allgemeine (Induktion) oder ich schliesse vom Allgemeinen auf das Besondere (Deduktion) oder vom Überraschenden auf ein Fallverständnis oder eine Regel (Abduktion) (univie.ac.at «2 Arten des Schlussfolgerns»).
Im Folgenden beschreibe ich, auf welchen Wegen ich mögliche Lösungen und Antworten auf ihre Zuverlässigkeit prüfe und mich Stück für Stück vorarbeite. Dies ist in der Regel ein paralleler Prozess. Viele der Wege laufen gleichzeitig ab. Das immer mit dem Ziel, eine feste Überzeugung zu erlangen, die ich in die Tat umsetzten kann.
Ein ungefilterter Austausch mit Freuden, Co-Pastoren oder Leitern hat sich immer als sehr wertvoll erwiesen. Mich kostet es Mut, eine noch unreife Ansicht mit jemanden zu teilen. Daher suche ich mir dafür Menschen, denen ich vertraue und weiss, dass sie damit umgehen können. Mir dient dieser Prozess, weil ich meine Gedanken formuliere. Das bringt Ordnung in meine Überlegungen. Manchmal erkenne ich auch erst im Formulieren der Gedanken, was ich wirklich denke. Peterson (2021:3) schreibt dazu:
People depend on constant communication with others to keep their mind organized. We alle need to think to keep things straight, but we mostly think by talking. We need to talk about the past, so we can distinguish the trivial, overblown concerns that otherwise plague our thoughts from the experiences that are truly important.
Zu reden und die Gedanken auszudrücken ist ein zentraler Teil unseres Lebens und daher auch eines solchen Prozesses. Nicht zuletzt dient mir der Austausch auch, weil meine Gedanken von meinem Gegenüber geprüft und je nach dem auch kritisiert werden. Schon hier stellt sich heraus, wo mögliche Schwachpunkte in meinen Argumenten sind oder welche Argumente gänzlich über Bord geworfen werden müssen. Im Austausch treten auch andere Ansichten zu Tage. Diese lagen zuvor ausserhalb von meinem Sichtfeld. Wenn mein Gegenüber meine Argumente kritisch betrachtet und sie für ihn schlüssig sind, weiss ich, dass ich diese weiterverfolgen will.
Nebst dem Gespräch vertiefe ich mich mittels Literatur in ein Thema. Hier lerne ich neue Gedanken und neue Argumente kennen, welche ich kritisch hinterfrage. Literatur eröffnet mir einen neuen Horizont. Ich profitiere von Know-How und Wissen, das sich Leute über Jahre oder Jahrzehnte angeeignet haben. Dabei erfahre ich, warum meine Argumente hinken oder eben nicht. In Zeitschriften, Bücher oder Blogbeiträge finde ich oft wertvolle Inhalte. Auch Videos (z.B. über Youtube) von relevanten Personen helfen mir, eine Meinung zu bilden. Das ist zwar keine Literatur, dient mit aber zum selben Zweck. Die Herausforderung dabei besteht darin zu filtern, was relevante und zuverlässige Inhalte sind und welche nicht.
Pro und Kontra einer Argumentation zu verstehen sehe ich als zentral. Erst wenn ich verstehen kann, was die Befürworter und die Gegner einer Sache vertreten, kann ich mir ein konkretes Bild machen und daraus eine Antwort ableiten. Die Auseinandersetzung mit entgegengesetzten Meinungen suche ich daher aktiv. Natürlich kann ich das erst, wenn ich eine Meinung habe – oder zumindest eine Vorahnung von meiner Meinung. Ich möchte die Argumente der «Gegner» verstehen. Nur so kann ich eine Antwort darauf geben oder mir meiner Meinung sicher sein – oder meine Meinung ändern, wenn ihre Argumente überzeugender sind.
In all den verschiedenen Prüf-Arten versuche ich mit Gott verbunden zu sein. Im Gebet bewege ich dieses Thema vor Gott. Zudem nehme ich mir bewusst Zeiten, in denen ich ungestört beten und meditieren kann. Hierbei erlebe ich, wie Gott mich überführt. Vor allem da, wo ich eine vorgefertigte Meinung habe, die es zu revidieren gilt oder eine Überzeugung habe, die sich nicht mit Gottes Gedanken deckt. Da überführt mich der Geist Gottes auf wundersame Weise und spricht in einer Art zu meinem Herzen, wie es kein Mensch tun könnte. Im Gebet erlebe ich, wie ein Friede sich setzt und mich leitet. Zudem hilft mir das Gebet, mich von meinen Vorstellungen zu lösen und frei zu sein, um die Wahrheit zu erkennen. Dass der Heilige Geist konkret zu mir redet und mir eine Frage beantwortet, erlebe ich auch, doch ist das eher die Ausnahme. Moltmann (2014:174) schreibt über das Gebet und das Wachen im Gebet:
Wenn zum Erwachen, das aus dem Beten entspringt, die Nüchternheit hinzukommt, werden wir uns nichts vormachen und uns auch nichts vormachen lassen, weder von politischer Propaganda noch von dem Konsumzwang der Reklame.
Das Gebet ist also der Ausgangspunkt, von dem aus erst eine objektive Einschätzung möglich wird. Erst durch das Gebet können wir unsere Umgebung nüchtern wahrnehmen und daraus zu gesunden Überzeugungen gelangen.
Die Bibel dient mir als Massstab, an dem ich meine gewonnen Erkenntnisse messe. Für mich ist die Bibel die abschliessende Autorität in meinem Leben. Am Ende müssen sich meine Argumente von der Bibel her begründen lassen und den Werten der Bibel entsprechen. Wenn ein Argument aus der Literatur zwar plausibel ist, aber beispielsweise gegen das Doppelgebot der Liebe geht, ist es für mich nicht akzeptabel.
Das Gewissen ist also gar nicht Ort der absoluten Vereinzelung. Es steht nicht für sich selbst. Bewegend, wahrheitsfähig wird es, wenn es sich anrühren lässt, ja: wenn es merkt, dass es gar nicht in sich selbst ruht. Luthers Provokation heißt: Das Gewissen ist dann in Ordnung, wenn es gefangen ist. Gefangen in Gottes Wort. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht. Ich jedenfalls fand und ich finde das irritierend. Und doch steckt genau hier der Pfiff der ganzen Angelegenheit. Das Gewissen ist kein neutraler Ort des sich-selber-Habens. Es ist hier oder dort gefangen. Eine überaus moderne Einsicht! Bei Sigmund Freud heißt sie das »über-Ich«. Friedrich Nietzsche hat genau deshalb gegen das Gewissen gewütet, wie er gegen so manches andere auch gewütet hat. Und Luther hat es lang schon gewusst: Unser Gewissen ist geprägtes und geformtes Gewissen. Gut also, ja: einzig richtig, wenn es in Gottes Wort gefangen ist, und nicht anderswo (Hailer 2016).
Meine Überzeugungen und Antworten sollen in allen Belangen auf dem Fundament der Bibel stehen. Mein Gewissen soll gefangen sein im Wort Gottes. Das Wort Gottes soll die alles prägende Komponente sein und die abschliessende Autorität in meinem Leben und in jedem Prozess. Oder wie Bonhoeffer (1998:530) es formuliert:
«Wo das Wort von zu Haus bei mir ist, finde ich in der Fremde meinen Weg, im Unrecht mein Recht, in der Ungewißheit meinen Halt, in der Arbeit meine Kraft, im Leiden die Geduld.»
Wie bei einer Bergwanderung ist die Prüf-Phase von Hochs und Tief gekennzeichnet. Die vermeintlich «richtige» Antwort muss doch oft wieder über Bord geworfen werden, weil neue oder bessere Argumente auftauchen. Stück für Stück nähere ich mich dem Ziel an. Immer besser kann ich formulieren, was meine Überzeugungen in einer gewissen Sache sind.
1.1.4 Überzeugung
Die Prüf-Phase gipfelt mittels Deduktion, Induktion oder Abduktion – oder allen zusammen – in einer Überzeugung. Ich bin ein Mensch, der von Überzeugungen geleitet lebt. Ich brauche Überzeugungen, um danach zu handeln. Oft wage ich den Schritt in die Umsetzung erst dann, wenn sich eine starke, innere Überzeugung in mir geformt hat.
Eine Überzeugung gibt mir tiefen Frieden, Klarheit in meinen Gedanken und eine innere Kraft, die mich antreibt. So fühle ich mich gefestigt und kann gemäss dieser Überzeugung leben. Auch mit Kritik lässt sich dann leichter umgehen, wenn ich nicht nur Fakten und Erkenntnisse habe, sondern eine starke innere Überzeugung gewonnen habe.
1.1.5 Umsetzung (Entscheidung und Anwendung)
In Übereinstimmung mit meiner gewonnenen Überzeugung treffe ich eine Entscheidung. Gemäss dieser Entscheidung handle ich dann. Je nach Thema ist das eine Handlung oder auch das Erlernen eines neuen Lebensstils.
Nach der getroffenen Entscheidung geht es darum herauszufinden, ob meine Entscheidung und die daraus resultierende Handlung korrekt, hilfreich und zielführend ist. Das stellt sich dadurch heraus, ob diese Entscheidung eine neue Frage oder Irritation aufwirft. Wenn dem so ist, startet wieder ein neuer Prozess (in der Abbildung verblasst dargestellt unter «Neuer Zyklus»). Wenn auf Grund der Umsetzung nicht direkt eine Frage oder Irritation auftritt, weil sie fürs Erste offenbar zielführend war, wird doch im Verlauf der Zeit eine neue Frage oder Irritation auftreten. Diese wird dann ebenfalls einen neuen Prozess in Gang setzten (in der Abbildung oben verblasst dargestellt unter «Neuer Zyklus»). Er baut auf dem Fundament des ersten auf.
1.1.6 Lerneffekt
In jeder Bergwanderung legt man Höhenmeter zurück. Der «Höhenunterschied» in meinem Praxiszyklus stellt meinen Lerneffekt dar. Zwischen dem Ort der Frage, Irritation oder Betroffenheit und der Überzeugung mit deren Anwendung liegt mein Wachstum. Das ist für mich ein ermutigendes Bild. Denn jede Frage, Irritation oder Betroffenheit ist im ersten Moment unangenehm. Doch das Wissen darum, dass der oftmals unangenehme Prozess mir einen Lerneffekt bieten wird, schenkt Vision, um durch den Prozess zu gehen.
Bonhoeffer, Dietrich 1998. Illegale Theologenausbildung: Sammelvikariate 1937-1940. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus.
Hailer, Martin 2016. 29.05.2016: Prof. Dr. Martin Hailer über «Gewissen». Uni-heidelberg.de. Online im Internet: https://www.theologie.uni-heidelberg.de/universitaetsgottesdienste/2905_ss2016.html [Stand: 19. Oktober 2021].
Moltmann, Jürgen 2014. Der lebendige Gott und die Fülle des Lebens. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus.
Peterson, Jordan B. 2021. Beyond order: 12 more rules for life. New York City: Penguin Randomhouse LLC.