In diesem Blogpost gehe ich der Frage nach, ob es eine Krise der Weisheit im alten Israel gegeben hat. Die Grundlage und die Fragestellung (aus einer Arbeit, die ich für www.igw.edu schreibe und ich für diesen Blogpost leicht angepasst habe) ist wie folgt: Die Weisheit in älteren Schriften kann sehr positiv erscheinen, insbesondere wenn wir an den Tun-Ergehen-Zusammenhangs denken. Dieser besagt im Wesentlichen, dass gutes Tun auch gutes Ergehen mit sich zieht (und schlechtes Tun dementsprechend schlechtes Ergehen) – ein Prinzip, das in Sprüche 10-22 immer wieder veranschaulicht wird. Jüngere Schriften, wie das Buch Hiob oder Kohelet (Prediger), haben begonnen, diese Vorstellung infrage zu stellen.
1.1 Einleitung in die Weisheit
Die Weisheitsliteratur des Alten Testaments umfasst die Bücher der Sprüche Salomos, Hiob und den Prediger (Kohelet). Zusätzlich finden sich Weisheitspsalmen wie beispielsweise Ps 1, 19, 37, 49, 73 und 90. (Die Bücher aus den Apokryphen werden in dieser Arbeit nicht berücksichtigt.) Obwohl Salomo oft als der Vater der Weisheit gilt, gibt es auch zahlreiche andere Autoren in dieser Gattung (Egelkraut 2017:625). Im Wesentlichen beschäftigt sich die Weisheitsliteratur mit der Frage nach einem gelingenden Leben (Krüger 2015:46). Ein zentrales Thema in der Weisheitsliteratur ist der Tun-Ergehen-Zusammenhang, wobei betont wird, dass unser Tun (ob gut oder böse) direkte Auswirkungen auf unser späteres Ergehen haben wird (Krüger 2015:46) – deutlich wird das z.B. in Spr 11,5; 13,21; 17,13 oder Spr 19,16: «Wer das Gebot bewahrt, bewahrt sein Leben; wer seine Wege verachtet, muss sterben» (Freuling 2008:3.1.). Dabei gilt mit Dieckmann & Petersen (2009:643) aber zu sagen: «Die Weisheit wäre nicht weise, wenn sie nicht erkennen würde, dass sie oft an Grenzen stößt. Am deutlichsten werden diese Grenzen in den Büchern Kohelet [Prediger] und Hiob.» Diese beiden Bücher sollen nun beleuchtet werden.
1.2 Tun-Ergehen-Zusammenhang in Hiob und Prediger
Hiob beklagt, dass der Tun-Ergehen-Zusammenhang, und somit eine gerechte Weltordnung, nicht gewährleistet zu sein scheint (Grund 2005). Das Buch wirft die Frage auf, wie sich das Leiden eines Unschuldigen mit der Gerechtigkeit Gottes vereinbaren lässt (Dieckmann & Petersen 2009:643). Dabei ist unbestritten, dass Hiob (und Prediger) das Konzept eines gelungenen Lebens aufgrund des Tun-Ergehen-Zusammenhangs problematisieren (Freuling 2008:3.2.).
«Das Hiobbuch konfrontiert den in der pädagogisch ausgerichteten Weisheit wahrgenommenen Zusammenhang von Tun und Ergehen mit widersprüchlichen Erfahrungen, die im Geschick Hiobs exemplarisch Ausdruck finden: Der weise und gerechte Hiob erfährt einen massiven Verlust, der sich nicht mehr aus dem Tun-Ergehen-Zusammenhang heraus erklären bzw. bewältigen lässt» (ebd.).
Die Aussage Hiobs: «Das Gute nehmen wir von Gott an, da sollten wir das Böse nicht auch annehmen?» (Hi 2,10a), macht deutlich, dass Hiob Gottes Souveränität über den Tun-Ergehen-Zusammenhang annimmt und sich gottesfürchtig darunter stellt. Hiob erfährt eine Wiederherstellung von Gott: «Und der HERR wendete das Geschick Hiobs, als der für seine Freunde Fürbitte tat. Und der HERR vermehrte alles, was Hiob gehabt hatte, auf das Doppelte» (Hi 42,10). Das ist jedoch kein Zugeständnis an einen starren Tun-Ergehen-Zusammenhang, vielmehr schreitet die Deutung des menschlichen Geschicks über den Tun-Ergehen-Zusammenhang hinweg, indem «sie es Hiob ermöglicht, sich vor seinem Schöpfer auch mit den für menschliche Weisheit unlösbaren Aporien [unlösbare Widersprüche] seines Geschicks einzufinden» (Freuling 2008:3.2.2.). Hiobs Leiden können dabei nicht auf sein böses Tun zurückgeführt werden, sondern nur darauf, dass er einem himmlischen Test unterzogen wurde (vgl. Hi 1,1) (Krüger 2015:59).
Während Hiob den Tun-Ergehen-Zusammenhang überwindet, wird dieser im Prediger relativiert (Freuling 2008:3.3.):
«Der gottgewirkte Wechsel der Zeiten (Pred 3,1-15) bleibt dem Menschen undurchschaubar; auch die Weisheit kann den Menschen nicht vor den Widerfahrnissen des Lebens (vgl. Pred 9,11f.) bewahren. Zuletzt steht der Tod außerhalb der vom Menschen gestalt- und beeinflussbaren Lebenszusammenhänge und relativiert Weisheit wie Torheit (Pred 2,12-16), ohne dass freilich ein ‘Gewinn’ der Weisheit vor der Torheit (s. Pred 2,12-14a) gänzlich bestritten wird. Und doch wird der Bereich des Lebens, in dem weisheitliche Orientierung Frucht bringt auf ein Minimum reduziert, und auch dieses Minimum bleibt durch die Widerfahrnisse des Lebens bedroht» (ebd.).
Der Prediger relativiert also den Tun-Ergehen-Zusammenhang und begrenzt ihn auf ein Minimum. Das lässt sich an folgendem Vers gut zeigen:
«Ferner sah ich unter der Sonne, dass nicht die Schnellen den Lauf gewinnen und nicht die Helden den Krieg und auch nicht die Weisen das Brot und auch nicht die Verständigen den Reichtum und auch nicht die Kenntnisreichen die Beliebtheit, sondern Zeit und Geschick trifft sie alle» (Pred 9,11).
Weder Weisheit noch gutes Tun wird gemäss dem Prediger also den Menschen vor dem Geschick absolut und immer retten. Der Tun-Ergehen-Zusammenhang wird vom Prediger relativiert und als brüchig dargestellt (Dieckmann & Petersen 2009:643).
1.3 Fazit zum Tun-Ergehen-Zusammenhang und der Krise der Weisheit
Gab es also eine Krise der Weisheit im alten Israel? Mit Dieckmann & Petersen (2009:643f) würde ich weniger von einer Krise der Weisheit, als viel eher von einer kritischen Weisheit reden: «Damit werden auch die Selbstkritik und die Reflexion der Differenzen zwischen Erkenntnis und Erfahrung als ein integraler Bestandteil von ‘Weisheit’ begriffen» (:644). Von einer Krise der Weisheit kann m.E. nicht gesprochen werden, gerade auch, weil noch nicht einmal die Sprüche den Tun-Ergehen-Zusammenhang dogmatisieren [festschreiben] (Hausmann 2009), auch wenn sie ihre Hoffnung darauf setzten, dass die Weisheit Erfolg bringt (Dieckmann & Petersen 2009:641). Viel eher kann von einer Überwindung bzw. Relativierung des starren Tun-Ergehen-Zusammenhangs in der kritischen Weisheit gesprochen werden (Freuling 2008). Auch hier finde ich die Worte von Freuling treffend:
«Darüber hinaus wirbt Qohelet [Prediger] […] für eine Haltung, die sich der Grenzen des eigenen Tuns bewusst ist und sich darüber hinaus Gottes Wirken gefallen lässt, das dem Menschen nicht nur in den negativen Widerfahrnissen des Lebens, sondern auch im Guten und in der Freude […] begegnet» (Freuling 2008:3.3.).
Nicht Hiob und nicht Prediger wende sich gegen die Weisheit an sich, sondern gegen eine Weisheit, die denkt, alles erklären zu können und alle Fragen des Lebens beantworten zu müssen (Egelkraut 2017:638). Das bedeutet schlicht und einfach: «Das Tun Gottes bleibt ein Geheimnis» (ebd.). Die Weisheit erlebte mit Hiob und Prediger einen kritischen Moment und fand eine Antwort auf die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit: Sie kann nicht alles erklären und kann nicht alles beantworten. Die Weisheitsliteratur beinhaltet zweifellos auch Schwatz-Weiss-Töne (vgl. Spr 19,16). Diese Dualismen mögen auf den ersten Blick simplistisch erscheinen, jedoch sind sie keineswegs naiv. Vielmehr stellen sie den Menschen wiederholt und absichtlichvor eine grundlegende Entscheidung: Soll er das Gute oder das Böse tun? Dabei wird ihm verdeutlicht, dass die Konsequenzen seines Handelns entsprechend sein werden. Das Leben, sowie Werke wie das Buch Hiob und der Prediger, verdeutlichen jedoch auch, dass die Realität oft weitaus komplexer ist, als es diese Dualismen suggerieren [nahelegen] (Ott 2021: 93). Darin werden die Schwarz-Weiss-Töne relativiert und einer kritischen Betrachtung unterzogen. Passend zu diesem Fazit hat Bonhoeffer (2020:68) in seiner Ethik treffende Worte formuliert:
«Der Kluge kennt die begrenzte Empfänglichkeit der Wirklichkeit für Prinzipien; denn er weiß, daß die Wirklichkeit nicht auf Prinzipien aufgebaut ist, sondern in dem lebendigen schaffenden Gott ruht.»
Schlussbemerkung
Die kritische Auseinandersetzung mit dem Konzept des Tun-Ergehen-Zusammenhangs kann in seelsorgerischer Hinsicht von grosser Bedeutung sein. In Krisensituationen, bei Krankheit oder anderen negativen Ereignissen in unserem Leben, kann in manchen Fällen und in bestimmten (religiösen) Kreisen eine zusätzlich belastende Komponente (wie z.B. Scham) festgestellt werden. Dies liegt daran, dass oft, jedoch oft fälschlicherweise der Schluss gezogen wird, dass Sünde oder schlechte Entscheidungen die Ursache für das negative Ergehen sein müssen, ohne dabei zu beachten, dass, wie Bonhoeffer sagt, die Wirklichkeit nur über eine begrenzte Empfänglichkeit für Prinzipien verfügt.
Die kritische Auseinandersetzung mit dem Tun-Ergehen-Zusammenhangs kann uns dabei helfen, einen besseren Umgang mit solchen negativen Lebenserfahrungen zu entwickeln (z.B. weniger Scham oder Selbstverurteilung), ohne jedoch völlig zu leugnen, dass der Glaube an einen Zusammenhang zwischen Handeln und den daraus resultierenden Konsequenzen seine Berechtigung hat.
Literaturverzeichnis
Bonhoeffer, Dietrich 2020. Ethik. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus.
Dieckmann, Detlef & Petersen, Silke 2009. Weisheit. Uni-tuebingen.de. Online im Internet: https://ub01.uni-tuebingen.de/xmlui/bitstream/handle/10900/125970/Petersen_054.pdf?sequence=1&isAllowed=y [Stand: 17. Oktober 2023]
Egelkraut, Helmut 2017. Von Das Alte Testament. Entstehung – Geschichte – Botschaft. Giessen: Brunnen Verlag.
Elberfelder Bibel. 2016. Witten; Dillenburg: SCM R. Brockhaus.
Freuling, Georg 2008. Tun-Ergehen-Zusammenhang. Wibilex.de. Online im Internet: https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/36298/ [Stand: 29.August 2023].
Grund, Alexandra 2005. Tun-Ergehen-Zusammenhang. RGG Online. Online im Internet: https://referenceworks-1brillonline-1com-1a6wnfqb800d3.elk-wue-han.hh-netman.de/entries/religion-in-geschichte-und-gegenwart/tun-ergehens-zusammenhang-COM_025192?s.num=1&s.f.s2_parent=s.f.book.religion-in-geschichte-und-gegenwart&s.q=tun-ergehen[Stand: 29. August 2023].
Hausmann, Jutta 2009. Weisheit (AT). Wibilex.de. Online im Internet: https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/34707/[Stand: 29. August 2023].
Krüger, Tillmann 2015. Die Welt des AT. Skript Teil 1.
Krüger, Tillmann 2016. Die Welt des Alten Testament – Einheit 15 – Alttestamentliche Weisheitsliteratur II (Video). Zürich: IGW. Online im Internet: https://vimeo.com/ondemand/altestestament/178843715?autoplay=1 [Stand 29. August 2023].
Lange, Armin 2005. Weisheitsliteratur. RGG Online. Online im Internet: https://referenceworks-1brillonline-1com-1a6wnfqb800d3.elk-wue-han.hh-netman.de/entries/religion-in-geschichte-und-gegenwart/weisheitsliteratur-SIM_224114?s.num=0&s.f.s2_parent=s.f.book.religion-in-geschichte-und-gegenwart&s.q=weisheitsliteratur [Stand: 29. August 2023].
Ott, Bernhard 2021. Tänzer und Stolperer: Wenn die Bergpredigt unseren Charakter formt. Cuxhaven: Neufeld Verlag.