Auszug aus einer Arbeit für IGW (www.igw.edu)
Sünde als Wort ist erklärungsbedürftig. Sünde ist eine Worthülse, die für die meisten nicht mehr verständlich ist:
«Der Sündenbegriff kommt umgangssprachlich gelegentlich noch vor. ‘Naja, heute kann ich ja ausnahmsweise mal sündigen’, sagt eine Diabetikerin an ihrem 70. Geburtstag und nimmt sich noch ein Stück Torte. ‘Einmal ist keinmal’, rechtfertigt ein Mann seinen Seitensprung. Außerdem wird in Flensburg die ‘Verkehrssünderkartei’ geführt und in Zukunft werden ‘Klimasünden’ immer stärker geahndet werden (müssen). Die Beispiele spiegeln die Ambivalenz des Begriffs. Zum einen wird Sünde als halb so schlimm empfunden. Sünde ist das, was das Leben schön und angenehm macht. Porsche-Fahren macht eben aller Klimavernunft zum Trotz Spaß.»1
Sünde wird also allgemein falsch verstanden – und wenn Sünde falsch verstanden wird, sollten wir nicht einfach mehr oder weniger von Sünde reden (wie oft als Wunsch zum Ausdruck gebracht wird), dann müssen wir Sünde besser erklären – für heute erklären. Und das ist, wie Dietz2 erläutert, nicht mehr so einfach:
«Sünde – dieser Code ist im Grunde hoffnungslos beschädigt. Das Wort ist zu einem Unwort geworden. Es ist kein unglücklicher Zufall, dass dieses Wort nur noch in ironischer oder entrüsteter Haltung funktioniert. Das ist das Ergebnis eines langen Prozesses, eines errungenen Abschieds von erfahrener oder empfundener Abwertung und Beschämung. Das Wort ist verbrannt. Man kann es nicht mehr einfach so verwenden. Es erklärt nichts mehr, sondern bedarf selbst der ständigen Erklärung. Im Grunde ist dies in den westlichen Gesellschaften schon seit Jahrzehnten so. Sünde als Wort ist also ‘verbrannt’.»
Was hat es mit Sünde auf sich? Geht es darum, dass wir etwas falsches tun? Oder geht Sünde tiefer?
Wie also können wir heute von Sünde reden?
Wir starten direkt mit einer Wurzelbehandlung: «Sünde ist wohl Gottlosigkeit, aber nicht in dem Sinn, dass der Mensch Gott los ist, sondern dass er ihn los sein möchte», so fühlt uns Brunner3 auf den Zahn. Da wo wir Gott nicht trauen, also im Miss-trauen leben, leben wir in Sünde, die uns von Gott trennt: «Sünde ist eine Verkehrung des Vertrauens»4. Daher suchen wir Erfüllung neben dem einen wahren Fluchtpunkt: Gott selbst, der das Ziel aller menschlichen Sehnsucht ist5. Das mündet in Masslosigkeit und Verblendung und in eine falsche Ausrichtung des Lebens (Zielverfehlung)6. Sünde beschreibt also zuerst eine Haltung, bevor es um eine Handlung geht.
Das Problem besteht gemäss Paulus schlicht und ergreifend darin, dass die Menschen Gott nicht als Gott anbeten:
Denn obgleich sie Gott erkannten, haben sie ihn doch nicht als Gott geehrt und ihm nicht gedankt, sondern sind in ihren Gedanken in nichtigen Wahn verfallen, und ihr unverständiges Herz wurde verfinstert. Da sie sich für weise hielten, sind sie zu Narren geworden und haben die Herrlichkeit des unvergänglichen Gottes vertauscht mit einem Bild, das dem vergänglichen Menschen, den Vögeln und vierfüßigen und kriechenden Tieren gleicht.
Römerbrief 1,21-23 (SCH2000)
Nach Kierkegaard7 ist der Mensch ein Selbst, das vor Gott ist. Das Unheil kommt aus der Sünde des «verzweifelte[n] Nicht-von-Gott-Wissen» wollen8. Das Resultat davon, wenn wir in unserem Leben selbst Gott sein wollen, und somit die Lebens- und Weltordnung verletzten, ist, dass unsere Lebensmöglichkeit erlischt – darin verwirken wir unser Leben9. Unsere Lebenskraft zerrinnt uns zwischen den Fingern; die Fülle des Lebens lässt sich nicht greifen – egal wie sehr wir es, mit egal welchen Mitteln, versuchen. Der Lebenswein ist aus dem Menschen ausgeschenkt, so Kierkegaard10. Zeitgemässer drückt es Ott11 aus: «Der Gottestänzer ist zum Stolperer geworden.» Denn: «Ohne den Schöpfer ist das Geschöpf bald erschöpft»12.
Als Résumé zur Sünde können wir festhalten: In dem wir Gott los sein wollen und ihm misstrauen, haben wir uns verrennt und uns vom Leben abgenabelt. Wir sind über uns selbst gestolpert.
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Literatur
1 Knieling, Reiner 2011. Was predigen wir? Eine Homiletik. Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Theologie. S. 87
2 Dietz, Thorsten 2021. Sünde: Was Menschen heute von Gott trennt. Holzgerlingen: SCM Brockhaus. S. 17
3 Brunner, Emil 1963. Wahrheit als Begegnung. Zürich: Zwingli Verlag. S. 150
4 Dietz, Thorsten 2021. Sünde: Was Menschen heute von Gott trennt. Holzgerlingen: SCM Brockhaus. S. 34
5 Dietz, Thorsten 2021. Sünde: Was Menschen heute von Gott trennt. Holzgerlingen: SCM Brockhaus. S. 38
6 Dietz, Thorsten 2021. Sünde: Was Menschen heute von Gott trennt. Holzgerlingen: SCM Brockhaus. S. 45
7 Kierkegaard, Sören 1984. Die Krankheit zum Tode. Hamburg: CEP. S. 73ff
8 Kierkegaard, Sören 1984. Die Krankheit zum Tode. Hamburg: CEP. S. 76f
9 Hempelmann, Heinzpeter & Herbst, Michael 2011. Vom gekreuzigten Gott reden: Wie wir Passion, Sühne und Opfer heute verständlich machen können. Giessen: Brunnen Verlag. S. 76
10 Kierkegaard, Sören 1984. Der Begriff der Angst. Übers. und hg.v. Hamburg: CEP. S. 133, 137
11 Ott, Bernhard 2021. Tänzer und Stolperer: Wenn die Bergpredigt unser Charakter formt. Cuxhaven: Neufeld Verlag. S. 48f
12 Ott, Bernhard 2021. Tänzer und Stolperer: Wenn die Bergpredigt unser Charakter formt. Cuxhaven: Neufeld Verlag. S. 183