Die Wahrheit könne wir weder auswendig lernen noch besitzen – sie ist eine Person: Jesus Christus. Damit haben wir uns im letzten Blogpost befasst.
Gut und Böse – und die absolute Wahrheit
Schon früh in der Bibel begegnet uns der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse (1. Mose 2,17) und mit ihm die Sünde (1 Mose 3). Hier knüpfen wir an postmodernes Denken und den christlichen Wahrheitsanspruch an:
«Sondern Gott weiß: An dem Tag, da ihr davon esst [vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse], werden euch die Augen geöffnet, und ihr werdet sein wie Gott und werdet erkennen, was Gut und Böse ist!» 1. Mose 3,5
Bonhoeffer geht in seiner (unvollendeten) Ethik[1] diesem Gedanken nach: «Das Wissen um Gut und Böse scheint das Ziel aller ethischen Besinnung zu sein. Die christliche Ethik hat ihre erste Aufgabe darin, dieses Wissen aufzuheben. […] Die christliche Ethik erkennt schon in der Möglichkeit des Wissens um Gut und Böse den Abfall vom Ursprung.» Bonhoeffer nimmt Bezug auf die Schöpfungsgeschichte, den Baum der Erkenntnis von Gut und Böse und den Sündenfall. In dem der Mensch vom Baum der Erkenntnis gegessen hat, hat er sich vom Ursprung – von Gott – getrennt: «Der Mensch im Ursprung weiß nur eines: Gott.»[2] Die Erkenntnis von Gut und Böse – man könnte auch sagen: von der absoluten Wahrheit – bekommt dem Menschen nicht gut. Sie dient ihm als Ersatz für Gott: «Das Wissen um Gut und Böse ist also die Entzweiung mit Gott. Um Gut und Böse kann der Mensch nur gegen [!] Gott wissen.»[3] Das Erkennen der absoluten Wahrheit – das Wissen um Gut und Böse – bleibt Gott vorbehalten: «Mit dem Wissen um Gut und Böse, weiß er [der Mensch], was nur der Ursprung selbst, Gott, wissen kann und darf.»[4]
Jene von uns, die – wie ich – mit der Überzeugung aufgewachsen sind, dass wenn wir an Gott glauben und die Bibel lesen, die Wahrheit kennen und wissen, was gut und böse ist, finden hier ganz am Anfang der Bibel (!) eine Geschichte, die herausfordert. Das kann uns (je nach Prägung) verunsichern – und doch ist es wichtig, uns einzugestehen, dass wir Menschen weder abschliessend um Gut und Böse oder die absolute Wahrheit wissen können, noch sollen – genau das trennt uns von Gott. Wenn wir uns all zu sicher sind, was z.B. im Leben eines anderen böse ist, übersehen wir all zu leicht den Balken in unserem eigenen Auge – so Jesus (vgl. Matthäus 7,3).
Der kleine aber feine Unterschied
Da mag man sich fragen: Sind wir mit Bonhoeffer zurück in der «postmodernen Beliebigkeit», wo es nicht mehr die eine Wahrheit gibt und wo das richtig ist, was sich richtig anfühlt? Ich denke nicht. So wie ich Bonhoeffer verstehe, geht es ihm um jene Differenz:
«Ich beanspruche für etwas, wahr/die Wahrheit zu sein.», so Hempelmann «Dabei weiß ich um die Differenz zwischen mir und dem, was ich als die Wahrheit als Grenzbegriff festhalte. […] Entscheidend ist hier also, ob jemand seine Position mit der Wahrheit identifiziert oder grundsätzlich um eine letzte Differenz zwischen dem, was er vertritt, und dem, was die Wahrheit ist, weiß.» [5]
Die Bibel als Wort Gottes und unsere Auslegung der Bibel sind eben nicht ein und dasselbe (wo diese Unterscheidung nicht geschieht, nennt man das Fundamentalismus[6]). Nur gegen Gott – wie Bonhoeffer schreibt – können wir um Gut und Böse wissen. Das bedeutet aber keineswegs, dass es die Wahrheit nicht gibt und wir dazu verdammt sind, orientierungslos im Kreis zu gehen. Karl Barth, einer der einflussreichsten Theologen des 20. Jahrhunderts und keiner, der sich vor klaren Worten drückte, schreibt in seiner Einführung in die Theologie: «In Wahrheit verhält es sich doch so, dass gerade die biblische Aussage als solche, d.h. eben: das von der Bibel bezeugte Wort Gottes in keinem Kapitel oder Vers auch nur einer jener Schriften einfach auf der Hand liegt […], sondern dass eben nach ihm – gerade nach ihm in seiner tiefsten Einfachheit – mit allen zu Gebote stehenden Mitteln […] gefragt werden muss.»[7]
Ja, es gibt Gut und Böse und es gibt die Wahrheit. Diese liegen aber eben nicht einfach auf der Hand. Wir können und sollen nach der Wahrheit forschen, dabei aber nicht aus den Augen verlieren, dass unser Erkennen immer Stückwerk bleiben wird (vgl. 1. Korinther 13,9). Postmodernes Denken sieht keine Not mehr, um die Wahrheit zu ringen – ist doch die Voraussetzung der Wahrheit nicht mehr gegeben. Diese Not sehen Bonhoeffer und Barth – aber sie weisen darauf hin, dass uns die Wahrheit bzw. das Erkennen von Gut und Böse nicht so verfügbar ist, wie wir das manchmal denken.
Der Blick von nirgendwo
Klar ist, wann immer wir etwas behaupten, erheben wir einen Wahrheitsanspruch. Das ist auch gut so – wie könnten wir sonst leben oder reden? Jedoch gilt es sich bewusst zu werden, dass ein Wahrheitsanspruch nicht zu verwechseln ist mit einer Wahrheitsgarantie.[8] «Doch das bedeutet keineswegs […], dass es keine objektive Wahrheit gibt. Richtig ist, dass es keinen absolut neutralen Standpunkt, keinen ‘Blick von nirgendwo’ gibt»[9] – der ist allein Gott vorbehalten. Genau darum können wir nur abschliessend um Gut und Böse wissen, wenn wir uns selbst zu Gott erheben – und dann wissen wir eben gegen Gott um Gut und Böse.
Wir können festhalten: Es gibt Orientierung in Sachen Wahrheit, Gut und Böse – und doch liegt diese nicht einfach auf der Hand. Demut ist angebracht.
Wie können wir also an die Wahrheit glauben und von ihr reden (das ist, wie wir gesehen haben, der Anspruch Jesu und der des Christentums), ohne sie anderen – mehr oder weniger gewalttätig – aufzuzwingen oder die Wahrheit zu benutzen, um über andere zu herrschen, sie zu dominieren und zu tyrannisieren? Denn das ist es doch, wogegen sich postmodernes Denken zu Recht (!) wehrt. Wie kann ein Reden von der Wahrheit aussehen, das nicht tyrannisiert und arrogant ist – und doch nicht in Beliebigkeit verfliesst. Dem gehen wir im nächsten Blogpost nach.
Um den nicht zu verpassen, kannst du dich hier eintragen. So bekommst du die neusten Blogposts per Mail zugesendet.
Literatur
[1] Bonhoeffer, Dietrich 1992. Dietrich Bonhoeffer Werke. 6: Ethik / Dietrich Bonhoeffer. Hrsg. von. 5., durchgeseh. Auflage der Taschenbuchausgabe (2.Auflage 1998). I. Tödt, hg. Gütersloh: Gütersloher Verl.-haus. S. 301
[2] Bonhoeffer, Dietrich 1992. Dietrich Bonhoeffer Werke. 6: Ethik / Dietrich Bonhoeffer. Hrsg. von. 5., durchgeseh. Auflage der Taschenbuchausgabe (2.Auflage 1998). I. Tödt, hg. Gütersloh: Gütersloher Verl.-haus. S. 301f
[3] Bonhoeffer, Dietrich 1992. Dietrich Bonhoeffer Werke. 6: Ethik / Dietrich Bonhoeffer. Hrsg. von. 5., durchgeseh. Auflage der Taschenbuchausgabe (2.Auflage 1998). I. Tödt, hg. Gütersloh: Gütersloher Verl.-haus. S. 302
[4] Bonhoeffer, Dietrich 1992. Dietrich Bonhoeffer Werke. 6: Ethik / Dietrich Bonhoeffer. Hrsg. von. 5., durchgeseh. Auflage der Taschenbuchausgabe (2.Auflage 1998). I. Tödt, hg. Gütersloh: Gütersloher Verl.-haus. S. 303
[5] Hempelmann, Heinzpeter 2015. „Stürzen wir nicht fortwährend?“: Diskurse über Wahrheit, Dialog und Toleranz. Witten: SCM, Brockhaus. S. 76
[6] https://www.bibelwissenschaft.de/ressourcen/wibilex/altes-testament/bibelauslegung-christliche, Abschnitt 5.2. und https://www.bibelwissenschaft.de/ressourcen/wirelex/4-inhalte-i-bibeldidaktik/fundamentalismus-biblizismus-bibeldidaktischer-umgang, Abschnitt 1.2. [Stand: 10. März 2024]
[7] Barth, Karl 2013. Einführung in die evangelische Theologie. 8. Auflage. Zürich$NTVZ Theologischer Verlag. S. 44
[8] Gabriel, Markus 2021. Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten: universale Werte für das 21. Jahrhundert. Ungekürzte Ausgabe, 1. Auflage. Berlin: Ullstein. S. 118
[9] Gabriel, Markus 2021. Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten: universale Werte für das 21. Jahrhundert. Ungekürzte Ausgabe, 1. Auflage. Berlin: Ullstein. S. 119
[10] Hempelmann, Heinzpeter 2008. „Was sind denn diese Kirchen noch …?“: Christlicher Wahrheitsanspruch vor den Provokationen der Postmoderne. 2. Aufl. Wuppertal: SCM, Brockhaus. S.51
Leave a Reply