Toleranz ist in aller Munde. Doch wie sieht ein tolerantes Leben aus?
- Bedeutet es, jeden Wahrheitsanspruch aufzugeben?
- Dass alle Aussagen und Meinungen gleich viel wert sind? Dass alles gleich gültig ist und somit alles gleichgültig wird?[1]
- Und führen exklusive (scheinbar intolerante) Wahrheitsansprüche notwendig zu Gewalt?
In den ersten vier Blogposts sind wir diesen Fragen nachgegangen und konnten feststellen, dass dem nicht so ist. Die Frage bleibt: Wie sieht ein tolerantes Leben aus? Und wie nicht?
Der populäre Philosophie-Professor aus Bonn, Markus Gabriel, schreibt zu Toleranz: «Wir tolerieren falsche Meinungen. Das ist auch generell gut so, weil kein Mensch nur wahre Meinungen hat. Im Gegenteil, wir haben alle ziemlich viele falsche Meinungen, weil niemand alles wissen kann. Doch folgt daraus nicht, dass wir alle Meinungen tolerieren sollten. Beim zweiten Hinsehen bemerkt man nämlich, dass es keinen guten Grund dafür geben kann, der Intoleranz gegenüber tolerant zu sein. Zur Intoleranz zählt nämlich die Bekämpfung von Toleranz. Warum sollte Toleranz es zulassen, dass sie von ihrem Gegenteil abgelöst wird? Das wäre so, als müsste ein Pazifist es automatisch akzeptieren, wenn ein Bellizist (ein Kriegstreiber) gegen den Pazifismus ins Feld zieht.»[2] «Es ist moralisch geboten», so Gabriel weiter, «tolerant gegenüber Lebensentwürfen und Entscheidungen zu sein, die moralisch neutral sind. Es ist hingegen moralisch verwerflich, gegenüber moralisch verwerflichen Lebensentwürfen (wie einem Sadismus oder dem Rechtsterrorismus) tolerant zu sein».[3]
Auch wenn es sich als schwierig erweisen dürfte, abschliessend festzustellen, welche Lebensentwürfe moralisch neutral sind und welche nicht, finde ich Gabriels Gedankengang logisch. In einer Welt, die ununterbrochen nach Toleranz schreit, finde ich es zudem erfrischend, auch der Intoleranz Platz einzuräumen – denn Intoleranz «führt keineswegs notwendig zu Konflikt und Gewalt. Intoleranz in Sachfragen bedeutet eben […] nicht Intoleranz gegenüber der Person, die anders denkt und lebt als ich.»[4]
Nun bewegen wir uns auf dünnem Eis. Dies, weil – unter postmodernen Bedingungen – die Person und die Sachen eigentlich nicht mehr getrennt werden können. Wenn das Subjekt (die Person und ihr Erleben) absolut werden, wird jede Infragestellung der Position zu einer Infragestellung der Person – also ein persönlicher Angriff. Das ist die postmoderne Situation. Kann uns Jesus hier einen versöhnlichen Weg weisen? Ich meine ja:
«Jesus praktiziert eine Unterscheidung von Person und Sache. Den Menschen, denen er begegnet, ist er durch die Sendung des Vaters zu denen, die verloren sind, absolut verpflichtet. Um sie ringt er. Gerade weil er um sie ringt, muss er die Perspektive, die er bringt, so klar wie möglich – in Wort und Praxis – zur Geltung bringen. Gegnerschaft oder gar Feindschaft in der Sache bedeutet für Jesus aber nicht, dass er versucht hätte, die Menschen zu bekämpfen, zu beseitigen, zu vernichten, die ihm entgegenstehen.»[5]
Das selbst als Kronzeuge
Es sei typisch für die digitalmoderne Situation, so Menasse, «Alles […] auf das eigene Verhalten [zu beziehen], in jeder Diskussion marschiert das eigene Ich als Hauptzeuge auf»[6] und: «Das Selbst und seine Empfindungen werden zur wichtigsten Bezugsgröße.»[7] Unter postmodernen Voraussetzungen ist das einleuchtend. Das kann ein Gesprächsklima aber vergiften – oder zumindest ein Gespräch erschweren. Was einem Dialog weiter Steine in den Weg legt, beschreibt Menasse so: «Durch Aufruhr und Geschrei wird oft das, was eine Debatte hätte werden können, schon in ihrer Geburtsstunde massiv in eine extreme Richtung gedrängt.»[8] Da wo – speziell in den sozialen Medien – das eigene Selbst zur beherrschenden Bezugsgrösse wird, findet oft neben viel Geschrei und Aufruhr gar kein echter Dialog mehr statt. Genau dies erschwert es, die Postion von der Person zu trennen.
«Gut eingeübt ist inzwischen, die jeweilige Gegenseite a priori zu delegitimieren, anstatt sich mit ihren Argumenten auseinanderzusetzen; es sind mit Verve geführte Wegräum-Wettbewerbe.»[9] Statt sich der Position des Gegenübers zu stellen und die zu kritisieren (wozu man sich mit ihr intensiv beschäftigen müsste!), bezeichnet man dessen Ansichten als «problematisch» – das reicht in den meisten Fällen aus, um zu überrumpeln – und das, was eine Debatte hätte werden können, im Keim zu ersticken.[10] Die Person von der Position zu unterscheiden, wäre also wichtig und heilsam – wenn auch nicht einfach.
Hempelmann zeigt hier die Wichtigkeit einer verbindlichen Wahrheit auf[11]. Solange es keine allgemeinverbindliche Wahrheit gibt, sondern nur individuelle Wahrheiten, wird logischerweise jeder Wahrheitsanspruch in einen Konflikt führen, der eine Person (und ihre Wahrheit) angreift. Hingegen anzuerkennen, dass es eine allgemeinverbindliche Wahrheit gibt (auch wenn wir diese nicht immer klar benennen können), eröffnet erst die Möglichkeit, eine Position und nicht eine Person in Frage zu stellen und zu konfrontieren – so wie Jesus das vorgelebt hat. Wenn man nicht eine Position in Frage stellen kann, sondern immer nur eine Person (weil sie, ihre Erfahrung und ihre Wahrheit absolut sind), trägt das unerhörtes Konfliktpotential in sich. «Mit anderen Worten: die Unterscheidung von allgemeiner Wahrheit und immer bloß individuellen Wahrheitsansprüchen hat ein konflikt-minderndes, friedensstiftendes, nicht die Personen, sondern die Positionen bedrohendes Potential, das durch den postmodernen Wahrheitspluralismus verloren geht.»[12]
Die Lösung für Frieden liegt also gerade nicht darin, alle Wahrheitsansprüche aufzugeben[13]. «Unser Ergebnis lautet also: exklusive Wahrheitsansprüche führen keineswegs eo ipso zu Konflikt und Gewalt. Gerade die in der Mitte des christlichen Monotheismus stehende Praxis des Verhaltens Jesu zu seinen Gegnern und Feinden bricht einen weitverbreiteten, Gewalt provozierenden Verhaltensmechanismus auf, nach dem mein Feind ist, wer anders denkt als ich; nach dem ich bekämpfen muss, wer nicht meine Position vertritt.»[14]
Ohne die Liebe… alles umsonst!
Ja, die Wahrheit zu vertreten ist wichtig und das führt nicht notwendig zu Gewalt. Aus der Sicht Jesu reicht die Wahrheit aber nicht. Denn mit der Wahrheit und ohne die Liebe lässt sich auch viel Leid anrichten. Jesus gebietet seinen Jüngern:
«Ein neues Gebot gebe ich euch, dass ihr einander lieben sollt, damit, wie ich euch geliebt habe, auch ihr einander liebt. Daran wird jedermann erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt.» Johannes 13,34-35
Liebe bedeutet – neben vielem anderen – eben auch, dass man sein Gegenüber ernst nimmt und anerkennt, dass man unterschiedlich ist und unterschiedliche Ansichten hat. Vorschnell darauf zu verweisen, dass man es doch eigentlich schon gleich sehe, ist nicht Liebe. Liebe nimmt ernst. Liebe lebt von Zuwendung und lässt sich auf sein Gegenüber ein:
«Darum, meine geliebten Brüder, sei jeder Mensch schnell zum Hören, langsam zum Reden, langsam zum Zorn.» Jakobus 1,19
Ein offenes Ohr haben, zuhören[15] – das ist auch Liebe. Diese Liebe, «sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie erduldet alles», so beschreibt Paulus die Liebe (1. Korinther 13,7). Das sind herrlich wohltutende Worte, gerade in Zeiten des digitalen Geschreis der sozialen Medien und allgemeiner Gereiztheit, setzten diese Worte einen heilsamen Kontrast.[16]
An der Wahrheit festhalten – und in Liebe mein Gegenüber und seine Meinung ertragen. Meinem Gegenüber in Liebe Raum geben, ihm zuhören – ohne seine Ansicht teilen zu müssen oder sie vorschnell als problematisch abzuurteilen. Anderer Meinung sein zu dürfen, voller Überzeugung von der Wahrheit zeugen zu dürfen, ohne die Person diskreditieren zu müssen, die anders denkt und glaubt als ich. Dazu befreit uns die Wahrheit, wenn wir uns vom Geist der Liebe tragen lassen – denn:
«wenn ich Weissagung hätte und alle Geheimnisse wüsste und alle Erkenntnis, und wenn ich allen Glauben besäße, sodass ich Berge versetzte, aber keine Liebe hätte, so wäre ich nichts.» 1. Korinther 13,2
Mic-Drop. Dem, was Paulus hier schreibt, ist nichts hinzuzufügen.
Literatur
[1] Hempelmann, Heinzpeter 2008. „Wir haben den Horizont weggewischt“: Die Herausforderung: Postmoderner Wahrheitsverlust und christliches Wahrheitszeugnis. Witten: SCM, Brockhaus. S. 108
[2] Gabriel, Markus 2021. Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten: universale Werte für das 21. Jahrhundert. Ungekürzte Ausgabe, 1. Auflage. Berlin: Ullstein. S. 74
[3] Gabriel, Markus 2021. Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten: universale Werte für das 21. Jahrhundert. Ungekürzte Ausgabe, 1. Auflage. Berlin: Ullstein. S. 75
[4] Hempelmann, Heinzpeter 2015. „Stürzen wir nicht fortwährend?“: Diskurse über Wahrheit, Dialog und Toleranz. Witten: SCM, Brockhaus. S. 549
[5] Hempelmann, Heinzpeter 2015. „Stürzen wir nicht fortwährend?“: Diskurse über Wahrheit, Dialog und Toleranz. Witten: SCM, Brockhaus. S. 549
[6] Menasse, Eva 2023. Alles und nichts sagen: vom Zustand der Debatte in der Digitalmoderne. Köln: Kiepenheuer & Witsch. S. 68
[7] Menasse, Eva 2023. Alles und nichts sagen: vom Zustand der Debatte in der Digitalmoderne. Köln: Kiepenheuer & Witsch. S. 69
[8] Menasse, Eva 2023. Alles und nichts sagen: vom Zustand der Debatte in der Digitalmoderne. Köln: Kiepenheuer & Witsch. S. 71
[9] Menasse, Eva 2023. Alles und nichts sagen: vom Zustand der Debatte in der Digitalmoderne. Köln: Kiepenheuer & Witsch. S. 72
[10] Menasse, Eva 2023. Alles und nichts sagen: vom Zustand der Debatte in der Digitalmoderne. Köln: Kiepenheuer & Witsch. S. 74ff
[11] Hempelmann, Heinzpeter 2008. „Was sind denn diese Kirchen noch …?“: Christlicher Wahrheitsanspruch vor den Provokationen der Postmoderne. 2. Aufl. Wuppertal: SCM, Brockhaus. S.92
[12] Hempelmann, Heinzpeter 2008. „Was sind denn diese Kirchen noch …?“: Christlicher Wahrheitsanspruch vor den Provokationen der Postmoderne. 2. Aufl. Wuppertal: SCM, Brockhaus. S.92
[13] So auch Prof. Dr. Ralph Kunz hier: https://www.youtube.com/watch?v=-45Vo9sDGic
[14] Hempelmann, Heinzpeter 2015. „Stürzen wir nicht fortwährend?“: Diskurse über Wahrheit, Dialog und Toleranz. Witten: SCM, Brockhaus. S. 550
[15] „Deshalb will ich sagen: Demokratie bedarf eines hörenden Herzens, sonst funktioniert sie nicht. Ein solches hörendes Herz fällt aber nicht vom Himmel, überhaupt ist diese Haltung in einer Aggressionsgesellschaft besonders schwer einzunehmen. Meine heute zu vertretende These lautet, dass es insbesondere die Kirchen sind, die über Narrationen, über ein kognitives Reservoir verfügen, über Riten und Praktiken, über Räume, in denen ein hörendes Herz eingeübt und vielleicht auch erfahren werden kann.“ Rosa, Hartmut 2023. Demokratie braucht Religion: über ein eigentümliches Resonanzverhältnis: basierend auf einem Vortrag beim Würzburger Diözesanempfang 2022. 7. Auflage. München: Kösel. S. 55f
[16] Menasse, Eva 2023. Alles und nichts sagen: vom Zustand der Debatte in der Digitalmoderne. Köln: Kiepenheuer & Witsch. S. 84
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