Stell dir vor, du teilst deine Meinung zu etwas, das dich betroffen macht, und dein Gegenüber entgegnet dir: «Das ist halt einfach deine Wahrheit.» Du schluckst leer und überlegst. Was soll man darauf antworten? Was kann man darauf antworten? Genau in solchen Situationen begegnet uns die Frage, ob es die Wahrheit gibt, oder ob doch eher gilt «Hauptsache, es stimmt für dich». Ist Wahrheit eine Sache der persönlichen Vorliebe, oder gibt es eine allgemein verbindliche Wahrheit? Ist alles, was uns im 21. Jahrhundert bleibt, «postfaktische Gefühlsduselei»[1]? Diesen und anderen Fragen werden wir in dieser Blog-Serie nachgehen: “Es war einmal… die Wahrheit.”
Klar, man kann an dieser Stelle mit einer allzu einfachen, frommen Antwort sofort den Kopf aus der Schlinge ziehen. Doch reicht das? Befriedigt das? Und ist so eine Antwort wirklich so fromm, wie wir denken mögen?
Klar ist: Postmodernes Denken provoziert!
Postmodernes Denken – was ist das?
Postmodernes Denken wehrt sich gegen ein Wahrheitsmonopol und stellt fest, dass es genau diejenigen sind, die an eine absolute Wahrheit glauben, welche andere dadurch beherrschen wollen. Vielfalt, Unterschiedlichkeit und der Zusammenbruch allgemein verbindlicher Werte kennzeichnen die postmoderne Situation. Hinzu kommt das Ende von Meta-Erzählungen, also von grossen, Sinn stiftenden Erzählungen (wie z.B. dem Kommunismus, dem Kapitalismus, aber auch religiöser Meta-Erzählungen). Postmodernes Denken befreit sich von jeglicher Form der Herrschaft, von allem Totalitären[2].
Postmodern, so könnte man zugespitzt sagen, ist «das Individuum [die Person und ihr Erleben] […] sich selbst seine Wahrheit. Weil jemand etwas denkt, deshalb (!) ist es wahr. Denn das Individuum ist das letzte, ja nicht mehr überbietbare Kriterium»[3]. Das äussert sich in Sätzen wie: «Es gibt Wahrheit, aber nicht die Wahrheit», «Ich bin mir meine eigene Wahrheit», «Mein Erleben ist meine Wahrheit», «Wenn es für dich stimmt, ist es wahr». Um die Wahrheit zu ringen ist aus dieser Perspektive weder nötig noch sinnvoll[4]:«Neuzeit und Aufklärung streiten um Gott und die Wahrheit. Auch die Moderne streitet noch um die Wahrheit. Der Streit geht hier aber noch um die Wahrheit unter Voraussetzung der Wahrheit. […] An die Stelle dieses Streites um die Wahrheit, […] tritt in der Postmoderne die Einsicht, dass es sich um die ‘Wahrheit’ gar nicht zu streiten lohnt; dass ein solcher Streit ja sinnlos ist, weil Wahrheit als über-individuelle, die Einsicht und Anerkennung der einzelnen erzwingende Größe ja gar nicht mehr denkbar ist.»[5]
Wir haben den Horizont weggewischt
Der Anspruch, sich der Wahrheit anzunähern (durch Vernunft und das Ringen um sie), ist durch die «postmoderne Beliebigkeit ins Wanken geraten, die uns immer noch weismachen möchte, es gebe letztlich gar keine objektive Wahrheit, keine Tatsachen […], sondern immer nur politisch angehauchte Meinungen.»[6] Postmodernes Denken relativiert alles, ausser das Subjekt (die Person und ihr Erleben), das absolut gesetzt wird. Dadurch wird Wahrheit zur Angelegenheit persönlicher Auffassung[7]. Hempelmann formuliert im Anschluss an Nietzsche (der auch als Prophet der Postmoderne bezeichnet wird):
«Wir haben den Horizont weggewischt. Gott ist tot. Es zeugt von diagnostischem Tief- und Weitblick, wenn Nietzsche […] als Konsequenz formuliert und gleichzeitig fordert: ‘Das Individuum’ ist […] ‘etwas Absolutes’. Wo Gott tot ist, da tritt an seine Stelle das Individuum; […] da wird der Mensch zu ‘Gott’; da wird das Individuelle zur Verpflichtung, zur einzig möglichen, weil einzig bleibenden Zielsetzung. Da wird der Mensch sich selbst letzter Zweck; das wird das Individuelle zum Allgemeinen.»[8]
Deine Wahrheit und meine Wahrheit könne so nebeneinander existieren – das wirkt tolerant und scheint Vielfalt zu fördern, jedoch ist das erkauft um den Preis von Orientierungslosigkeit und Sinnlosigkeit. Wenn es die Wahrheit nicht gibt, gibt es dann noch Orientierung oder einen Sinn? Wird so nicht alles gleich gültig – somit aber auch gleichgültig[9]? Wird damit nicht «der Horizont weggewischt» und wir «stürzen fortwährend»?[10]
Fazit
Es greift zu kurz, so finde ich, postmodernes Denken per se zu verteufeln. Es würdigt das Erleben jeder Person, das finde ich wichtig; zu viele staubtrockene Lehren wurden – trotz bestem Willen – am Leben der Menschen vorbeigepredigt. Weiter sollte uns auffallen: «Freiheit, Pluralität und individuelle Identität [sind] nicht nur wesentliche Grundpostulate der Moderne [und der Postmoderne], sondern ebenso sehr wesentliche Grundmomente des Evangeliums.»[11] Treffend finde ich auch, dass postmodernes Denken eine realistische Einschätzung der menschlichen Verfasstheit voraussetzt: Der Mensch möchte sich gerne durchsetzen und selbst Gott sein (dazu später mehr). So abwegig klingt das nicht – gerade auch unter dem Licht des christlichen Glaubens, der davon ausgeht, dass Menschen in Feindschaft wider Gott leben (vgl. Röm 8,7) und selbst Gott sein wollen[12].
Und doch: trotz einiger Anknüpfungspunkten merke ich, wie vieles schwer zu verdauen ist – womöglich kaum zu verdauen ist. Die Orientierungslosigkeit und Sinnlosigkeit – ja, die Bodenlosigkeit, die sich in postmodernem Denken öffnet, stecken wir Menschen nicht so einfach weg. Gerade wenn wir an Gott glauben – wie die meisten, die das hier lesen – empfinden wir es als «bodenlose Frechheit», wie man so schön (und hier auch treffend) sagt.
Postmodernes Denken provoziert – genauso tut es der christliche Wahrheitsanspruch. Wie dieser daher kommt und wie er sich von “postmoderner Beliebigkeit” unterscheidet, nehmen wir im nächsten Blogpost unter die Lupe.
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Literatur
[1] Gabriel, Markus 2021. Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten: universale Werte für das 21. Jahrhundert. Ungekürzte Ausgabe, 1. Auflage. Berlin: Ullstein. S. 28
[2] Luz, Ulrich 2014. Theologische Hermeneutik des Neuen Testaments. Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Theologie. S. 100f
[3] Hempelmann, Heinzpeter 2013. Prämodern – Modern – Postmodern: warum „ticken“ Menschen so unterschiedlich? ; Basismentalitäten und ihre Bedeutung für Mission, Gemeindearbeit und Kirchenleitung. Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Theologie. S. 24f
[4] Hempelmann, Heinzpeter 2008. „Wir haben den Horizont weggewischt“: Die Herausforderung: Postmoderner Wahrheitsverlust und christliches Wahrheitszeugnis. Witten: SCM, Brockhaus. S. 106ff
[5] Hempelmann, Heinzpeter 2008. „Was sind denn diese Kirchen noch …?“: Christlicher Wahrheitsanspruch vor den Provokationen der Postmoderne. 2. Aufl. Wuppertal: SCM, Brockhaus. S. 46f
[6] Gabriel, Markus 2021. Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten: universale Werte für das 21. Jahrhundert. Ungekürzte Ausgabe, 1. Auflage. Berlin: Ullstein. S. 24
[7] Hempelmann, Heinzpeter 2008. „Wir haben den Horizont weggewischt“: Die Herausforderung: Postmoderner Wahrheitsverlust und christliches Wahrheitszeugnis. Witten: SCM, Brockhaus. S. 107
[8] Hempelmann, Heinzpeter 2008. „Was sind denn diese Kirchen noch …?“: Christlicher Wahrheitsanspruch vor den Provokationen der Postmoderne. 2. Aufl. Wuppertal: SCM, Brockhaus. S.34
[9] Hempelmann, Heinzpeter 2008. „Was sind denn diese Kirchen noch …?“: Christlicher Wahrheitsanspruch vor den Provokationen der Postmoderne. 2. Aufl. Wuppertal: SCM, Brockhaus. S.124
[10] Nietzsche, Friedrich 2012. Die fröhliche Wissenschaft. Nachdr. Stuttgart: Reclam. S. 141
[11] Luz, Ulrich 2014. Theologische Hermeneutik des Neuen Testaments. Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Theologie. S. 10
[12] Hempelmann, Heinzpeter 2008. „Was sind denn diese Kirchen noch …?“: Christlicher Wahrheitsanspruch vor den Provokationen der Postmoderne. 2. Aufl. Wuppertal: SCM, Brockhaus. S. 89
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