Wie können wir an die Wahrheit glauben und von ihr reden (das ist, wie wir gesehen haben, der Anspruch Jesu und der des Christentums), ohne sie anderen – mehr oder weniger gewalttätig – aufzuzwingen oder die Wahrheit zu benutzen, um mit ihr andere zu beherrschen? Denn das ist es doch, wogegen sich postmodernes Denken zu Recht (!) wehrt. Wie können und wollen wir in dieser postmodernen Situation von der Wahrheit und dem Evangelium reden, denn: «Das Evangelium als öffentliche Wahrheit bedeutet […] eine Zumutung, weil es Störung, ja Infragestellung des postmodernen Konsenses ist, es gebe nur ‘Wahrheiten für’; es gebe eben viele Wahrheiten; es gebe Wahrheit nur im Plural; jeder – notwendig individuelle – Horizont habe seine eigene.»[1]
Wie kann ein Reden von der Wahrheit aussehen, das nicht beherrscht oder arrogant ist – und doch nicht in Beliebigkeit verfliesst?
Verkrümmte Wesen
Um auf diese Frage einzugehen, müssen wir den Bogen etwas weiter spannen. Hören wir uns an, was Luther zum Menschen an sich zu sagen hat: Wir Menschen sind – so Luther – in uns selbst verkrümmte Wesen. Wir tendieren dazu, die Wahrheit dazu zu nutzen, um andere zu beherrschen und ihnen unsere Interpretation aufzuzwingen[2]. Das ist in der Geschichte (auch in der Kirchengeschichte) unschwer zu erkennen. Der Mensch ist eben ein zwiespältiges Wesen: Neben dem Guten und Edlen, zu dem er im Stande ist, hängt ihm das Böse auch an. Das ist kein düsteres Menschenbild, sondern die nüchterne und realistische Einschätzung des unvollkommenen, weil sündigen Menschen, der – so Paulus – immer auch im Einfluss der Sünde steht:
«ich sehe aber ein anderes Gesetz in meinen Gliedern, das gegen das Gesetz meiner Gesinnung streitet und mich gefangen nimmt unter das Gesetz der Sünde, das in meinen Gliedern ist. Denn ich tue nicht das Gute, das ich will, sondern das Böse, das ich nicht will, das verübe ich. Wenn ich aber das tue, was ich nicht will, so vollbringe nicht mehr ich es, sondern die Sünde, die in mir wohnt. Ich finde also das Gesetz vor, wonach mir, der ich das Gute tun will, das Böse anhängt.» Römerbrief 7:19-21,23
Postmodernes Denken hat von Übergriffen (zu Recht) genug – darum die Antwort der Postmoderne: Alles wird gleich gültig gesetzt. Das Subjekt (der einzelne Mensch und sein Erleben) werden absolut gesetzt: «Ich und mein Erleben sind mir meine Wahrheit». Übergriffe (Aufzwingen der Wahrheit) sollen so vermieden werden. Solange wir den Menschen aber als ein zwiespältiges Wesen betrachten, das noch immer unter dem Einfluss der Sünde lebt, kann das nicht gelingen. Wie können wir also unter der Voraussetzung der Sünde von der Wahrheit reden, ohne in Gleichgültigkeit zu verfallen?
Demütig akzeptieren
Je mehr wir an die Wahrheit glauben, desto mehr Demut sollten wir an den Tag legen und uns unserer eigenen Verkrümmtheit bewusst werden. Das bedeutet, dass wir uns unserer Neigung bewusst werden, anderen Menschen unsere Interpretation der Wahrheit aufzuzwingen zu wollen – oft auch unter Anwendung von (meist psychischer) Gewalt. Das geschieht oft mit guten Absichten und ohne sich einer Schuld bewusst zu sein – das macht es aber nicht besser. Das zeigt einfach, wie subtil die Sünde in uns am Werk ist.
Auch das scheinbar tolerante postmoderne Denken ist da keine Ausnahme; denn wenn es keine verpflichtende Wahrheit mehr gibt, setzt sich in einer unvollkommenen Welt – und in so einer leben wir als unvollkommene Menschen -, am Ende einfach der oder die Stärkere durch. Auch postmodernes Denken kann sich von der menschlichen Verkrümmtheit und dem «Wille zur Macht» – so Nietzsche – nicht lösen[3]. Just die zentrale Position der Postmoderne «‘es gibt nicht nur eine Wahrheit, sondern ganz viele’ [tritt] in Gestalt der einen neuen Wahrheit und mit absolutem Geltungsanspruch [auf]»[4]. Wenn wir von der Wahrheit reden wollen, dann bleibt uns nichts andere übrig, als die Macht der Sünde in uns und in unserem Gegenüber als Realität anzuerkennen.
Stückwerk und Schwäche
Paulus kann in seinem Brief an die Korinther ganz un-fundamentalistisch und nüchtern schreiben, dass wir alles nur stückweise erkennen. Das tut weder seinem Eifer für das Evangelium einen Abbruch, noch fällt dem Apostel einen Zacken aus der Krone:
«Denn wir sehen jetzt mittels eines Spiegels wie im Rätsel, dann aber von Angesicht zu Angesicht; jetzt erkenne ich stückweise, dann aber werde ich erkennen, gleichwie ich erkannt bin.» 1. Korinther 13,12
Demut lebt von der nüchternen Einsicht, dass unsere Erkenntnis Stückwerk ist und dass ich mich als Mensch unmöglich selbst ins Recht setzen kann. Nein, nur Gott kann den Menschen ins Recht setzten – der Mensch ist zu einer Selbstbegründung nicht in der Lage[5][6]. Wir können schlussendlich nur demütig auf Gott verweisen und das immer im Bewusstsein davon, dass unser Erkennen stückweise ist. Paulus spielt darauf an, wenn er schreibt: «dann aber…» wird Gott uns alle erkennen lassen. Wir verweisen auf Gott – nicht auf uns selbst[7]. Und dieser Gott wird «dann aber» alle erkennen lassen (und damit ins Recht setzten oder eben nicht).
Es ist bezeichnend, dass gerade im prophetischen Reden im Gottesdienst – also wenn im Namen Gottes gesprochen wird – Paulus die Korinther ermahnte, alles kritisch zu prüfen (1. Korinther 14,29). An die Wahrheit zu glauben und von ihr zu reden, darf also nicht dazu führen, dass wir immun gegen Kritik werden – sonst verkommen wir zu Fanatikern.
Wir halten fest, dass wir verkrümmte Wesen sind, die sich (neben all dem Guten und Edlen) vom Bösen und dem Einfluss der Sünde nie ganz lösen können – und wir haben gesehen, dass unser Erkennen Stückwerk ist. So sieht für mich die nüchterne Betrachtung der menschlichen (also auch meiner) Verfasstheit aus. Was machen wir unter diesen Voraussetzungen?
Demütig ertragen
Ich halte es unter diesen Voraussetzungen für angebracht, demütig den Widerstand gegen unsere Erkenntnis der Wahrheit selbst zu ertragen – so wie Jesus es uns vorgelebt hat (aus christlicher Sicht wird ja das Sünden-Problem am Kreuz gelöst). Das erscheint mir als der einzige Weg, nicht tyrannisch zu werden. «Christen stehen bei Gott in Seinen Leiden»[8], wie Bonhoeffer schrieb, gilt auch, wenn es um die Wahrheit geht und darum, von ihr zu reden.
Das Leben Jesu und die Wahrheit
Ja, Jesus hatte einen absoluten Anspruch auf die Wahrheit – Beliebigkeit kommt uns in seinen Reden gerade nicht entgegen[9]. Aber (!) – und das können wir direkt vorwegnehmen – lieber ertrug Er den Widerstand gegen die Wahrheit an sich selbst, als dass er die Wahrheit gewaltsam (physisch oder psychisch) anderen aufzuzwingen würde. Genau das führte dazu, dass Er gekreuzigt wurde:
«Und er trug sein Kreuz und ging hinaus zur sogenannten Schädelstätte, die auf Hebräisch Golgatha heißt. Dort kreuzigten sie ihn, und mit ihm zwei andere zu beiden Seiten, Jesus aber in der Mitte.» Johannes 19,17-18
Das finde ich unüberbietbar wichtig. Warum? Jesus setzt hier einen Kontrast, wie er nicht stärker sein könnte. Zum einen hält Jesus – wie im zweiten Post beschrieben – an der Wahrheit fest. Andererseits ertrug Er jedoch den Widerstand gegen die Wahrheit an sich selbst und zwang die Wahrheit niemandem auf. Natürlich sind wir unvollkommen und somit nicht wie Jesus – uns an ihm zu orientieren, wird uns dennoch guttun. Hempelmann bringt das auf den Punkt:
«Das martyrein [woher das Wort Märtyrer abgeleitet wird] in seiner Doppelbedeutung von zeugen und leiden ist darum die dem christlichen Glauben gemäße Aussageweise. Ein Bezeugen, das in der Sache ebenso eindeutig ist, wie es umgekehrt bereit ist, am Widerstand und Widerspruch des Andersdenkenden zu leiden, bewahrt vor einer orientierungslosen Pluralität von bloßen, in ihrem Wahrheitswert unentscheidbaren Positionen [postmodernen Denkens], ohne aber – das ist entscheidend! – in eine neue Einheitstyrannei verfallen zu können.»[10]
Je sehr wir auch davon überzeugt sind, die Wahrheit zu kennen und mit lauteren Motiven zu bezeugen – über andere zu herrschen und ihnen die Wahrheit aufzuzwingen, kann nicht im Sinn dieses Gottes sein, der sich erniedrigte und sich kreuzigen lies (ohne sich zur Wehr zu setzen!). Gott wurde Mensch, erniedrigte sich, wehrte sich nicht und liess sich Gewalt antun (Philipper 2,6-8); und das alles, trotz – oder gerade wegen? – einem nicht zu überbietenden Wahrheitsanspruch:
«Da sprach Pilatus zu ihm: So bist du also ein König? Jesus antwortete: Du sagst es; ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und dazu in die Welt gekommen, dass ich der Wahrheit Zeugnis gebe; jeder, der aus der Wahrheit ist, hört meine Stimme.» Johannes 18,37
Das führte Jesus aber nicht dazu, andere durch die Wahrheit zu dominieren oder sie zu beherrschen. Dieser Jesus ist gerade kein Tyrann! Nein, er ertrug den Widerstand an sich selbst und nahm das Leiden auf sich selbst.
Unter diesen Voraussetzungen sollten wir uns dazu berufen sehen, den Mut zu haben, von der Wahrheit zu zeugen, dann aber den Widerstand gegen die Wahrheit demütig an uns selbst zu ertragen. Jesus sagte es so: «Will mir jemand nachfolgen, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir.» Matthäus 16,24
Literatur
[1] Hempelmann, Heinzpeter 2008. „Was sind denn diese Kirchen noch …?“: Christlicher Wahrheitsanspruch vor den Provokationen der Postmoderne. 2. Aufl. Wuppertal: SCM, Brockhaus. S.51
[2] Hempelmann, Heinzpeter 2008. „Wir haben den Horizont weggewischt“: Die Herausforderung: Postmoderner Wahrheitsverlust und christliches Wahrheitszeugnis. Witten: SCM, Brockhaus. S. 188ff
[3] Hempelmann, Heinzpeter 2008. „Wir haben den Horizont weggewischt“: Die Herausforderung: Postmoderner Wahrheitsverlust und christliches Wahrheitszeugnis. Witten: SCM, Brockhaus. S. 125
[4] Hempelmann, Heinzpeter 2008. „Was sind denn diese Kirchen noch …?“: Christlicher Wahrheitsanspruch vor den Provokationen der Postmoderne. 2. Aufl. Wuppertal: SCM, Brockhaus. S.91
[5] Hempelmann, Heinzpeter 2008. „Was sind denn diese Kirchen noch …?“: Christlicher Wahrheitsanspruch vor den Provokationen der Postmoderne. 2. Aufl. Wuppertal: SCM, Brockhaus. S.193
[6] Hempelmann, Heinzpeter 2008. „Wir haben den Horizont weggewischt“: Die Herausforderung: Postmoderner Wahrheitsverlust und christliches Wahrheitszeugnis. Witten: SCM, Brockhaus (S. 192f):
(Kleiner Exkurs: Jede menschliche Begründung lebt von Voraussetzungen – die können alle hinterfragt werden. Das Münchhausen-Trilemma dreht sich genau darum: Entweder lässt man sich a) auf ein unendliches Hinterfragen ein, das für den endlichen Menschen aber nicht praktikabel ist oder b) bricht den Begründungsversuch ab oder c) begründet in einem Zirkelschluss: «A gilt wegen B!» – «Warum gilt B?» – «B gilt wegen A!»
[7] Hempelmann, Heinzpeter 2008. „Was sind denn diese Kirchen noch …?“: Christlicher Wahrheitsanspruch vor den Provokationen der Postmoderne. 2. Aufl. Wuppertal: SCM, Brockhaus. S.57
[8] Bonhoeffer, Dietrich 2011. Werke. 8: Widerstand und Ergebung: Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft / Dietrich Bonhoeffer. Hrsg. von Christian Gremmels. Vollst. Ausg., versehen mit Einl., Anmerkungen und Kommentaren, 1. Aufl. der Taschenbuchausg. C. Gremmels, hg. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus (S. 515)
[9] Hempelmann, Heinzpeter 2008. „Was sind denn diese Kirchen noch …?“: Christlicher Wahrheitsanspruch vor den Provokationen der Postmoderne. 2. Aufl. Wuppertal: SCM, Brockhaus. S. 123
[10] Hempelmann, Heinzpeter 2008. „Wir haben den Horizont weggewischt“: Die Herausforderung: Postmoderner Wahrheitsverlust und christliches Wahrheitszeugnis. Witten: SCM, Brockhaus (S. 193).
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